Der Meidericher Bär
(Clays Xrynxs, 2019)

Zu Anfang des letzten Jahrhunderts gab es in Meiderich unweit der Ruhrort-Meidericher Hafenanlagen ein Gelände, das sich Kaisergarten nannte Es war zu dieser Zeit ein beliebtes Ausflugsziel vieler Meidericher Auf der Anlage befand sich u.a. auch die „Schankwirtschaft im Kaisergrün“ von Johannes Tummes, dessen Familie auch heute noch in der Gegend ansässig ist.
Die Attraktion des Geländes waren Vogelvolieren mit vielen exotischen Vögeln und einige Tierkäfige mit Affen und anderem Getier. Dort saßen u.a. auch zwei Braunbären ein. Als sich in den folgenden Jahren die Hafenanlagen immer weiter nach Meiderich ausbreiteten, musste der Kaisergarten mit seinen Tieren, Ausflüglern und Gartenwirtschaften weichen. Für die meisten Tiere wurden neu Plätze zumeist in einem Zirkus gefunden. Einzig ein alter Braunbär blieb zurück, allein, ohne seine Gefährtin, die an den Zirkus Hagenbeck gegeben worden war. Er wurde getötet. Man zog ihm sorgsam das Fell ab, um es als Trophäe herzuzeigen und auszustellen, mitsamt dem Kopfe, zerlegte das Übrige, briet es über dem Feuer und aß das Fleisch. Der Geist des Bären aber entkam.
Nun ist dies eigentlich nichts Ungewöhnliches. Jedes Kind weiß, dass man einen Bären schnell töten muss und das Fell und den Kopf auch nicht als Trophäe behalten darf, da sein Geist sonst keine Ruhe findet und umherirrt, bis er sich von der Qual der langsamen Hinrichtung und der Demütigung des Ausstopfens und Ausstellens befreien kann, in dem er z.B. in ein anderes Lebewesen hineinfährt und dieses den gleichen Horror erleben lässt. Am Besten eignet sich der Jäger, der den tödlichen Schuss abgibt. Erst dann findet der Geist des Bären Frieden und wird in die Gemeinschaft seiner Vorfahren aufgenommen.
Die Meidericher aber hatten aus der Tötung des Bären ein Volksfest gemacht. Der Bär hatte längst geahnt, was ihm bevorstand. Er war vorbereitet, so gut er konnte. Denn die Geister der Bären sind große Geister und Teil einer langen Kette von Geistern mit Erinnerungen, die in solchen Augenblicken dem Bären Kraft verleihen.
Als die erste Kugel ihn traf, hielt der Bär stand. Die Kugel trieb ihn ein wenig zurück, doch er sprang wieder nach vorn. Unter dem Gejohle der begeisterten Meidericher prallten die Geschosse auf ihn ein und sein schwerer Körper rockte vorwärts und rückwärts, nach links und nach rechts, bis er schließlich zum Stillstand kam und fiel. Dies war der Moment, da der Geist des Bären dem geschundenen Körper entfloh. Er suchte den Geist des Jägers, konnte ihn aber unter den vielen kreischenden und johlenden Menschen nicht finden. Er hatte zu lange gewartet und war längst zu schwach.
Lange danach, als er sich erholt hatte, war die fröhliche Jagdgesellschaft längst abgerückt. Des Bären einzige Hoffnung auf Erlösung war der Zufall, der ihn vielleicht den Jäger finden ließ, der ihn erlösen konnte.
In den folgenden Jahren und Jahrzehnten strich der Geist des Bären in der Nähe des Mittelmeidericher Marktplatzes umher, dort wo sich auch die Gaststätte Mismahl befindet. Es war nämlich der Jäger Heinrich Mismahl gewesen, der dem Bären die tödliche Kugel versetzt hatte.
Die Gegend veränderte sich, Krieg kam und Bomben fielen, der Krieg ging wieder und anderes Unheil kam, doch nichts davon konnte dem Geist des großen Bären aus seiner Lage helfen. Und so strich er weiter um die Häuser und hoffte jenem Mann wieder zu begegnen, der ihn getötet hatte.
Dann, eines sonnigen Tages im Frühjahr, sah der Bär den Jäger wieder. Zeit spielt für die Geister keine Rolle und so kam es ihm auch nicht in den Sinn, daran zu zweifeln, dass es sich um die gleiche Person handelte wie damals vor mehr als hundert Jahren. Die gedrungene, untersetzte Gestalt mit den grauen Haaren und dem grauen Bart saß hinter dem Lenkrad eines Transporters auf dem Parkplatz am Markt und stierte vor sich hin.
Der Fahrer hatte den Transporter gerade abgestellt und den Motor ausgeschaltet. Sein Beifahrer war bereits ausgestiegen und wartete. Der Grauhaarige saß unbeweglich, fast wie erstarrt, hinter dem Lenkrad und machte keine Anstalten ebenfalls auszusteigen. Der Beifahrer winkte ihm zu, doch endlich auch auszusteigen und wollte sich gerade abwenden, als der Grauhaarige den Wagen wieder startete.
Dann brach die Hölle los. Während der Fahrer aufs Gas trat und die Schaltung vorwärts und rückwärts drückte und riss, wobei er das Lenkrad einmal nach rechts, dann wieder nach links kurbelte, tanzte und sprang der Wagen auf dem Parkplatz vor und zurück und wieder zu Seite, nach links, dann nach rechts in die um ihn parkenden Fahrzeuge und hatte ein wahres Blech-Massaker angerichtet, bevor er endlich zum Stillstand kam.
Still bleib der Grauhaarige hinter dem Lenkrad sitzen. Als der Beifahrer die Türe öffnete und wissen wollte, warum er das gemacht habe, sah er diesen fast teilnahmslos an, schüttelte den Kopf und antwortete, er wisse es nicht.
Während der Geist des Bären den Grauhaarigen verließ und zu den Geistern seiner Vorfahren heimkehrte, erwachte auch des Grauhaarigen eigener Geist wieder, und er sah sich um, und er sah das Blechmassaker und die Leute hinter den Fenstern und den strahlenden Sonnenschein, der sich auf den Trümmern spiegelte, und er erinnerte sich an etwas, an jemanden…

Fortsetzung folgt.